Lea Grebe

INVASIV THOUGHTS

19. September bis 11. Oktober 2025

Das melodische Zirpen der Grille wurde vor allem in China ab dem sechsten Jahrhundert sehr geschätzt. Zu dieser Zeit wurden diese Insekten daher dort in Käfigen gehalten. Sie standen nachts oft direkt neben dem Bett, damit Halter:innen zum Gesang der Grillen einschlafen konnten. Es ist anzunehmen, dass zuerst von kaiserlichen Hofdamen versucht wurde, Grillen derart zu domestizieren. Davon ausgehend ist diese spezielle Form der Insektenliebe zu einer Gelehrtenbeschäftigung avanciert, denen die melodischen Langfühlerschrecken als Sujet für Gedichte, Erzählungen und wissenschaftliche Studien dienten. Für Grillen entstand dabei eine Vielzahl an Ausstattungsgegenständen: Futtertabletts, Reinigungsbürsten, Pinzetten und Schlafnetze aus Seide staffierten die Behausungen der Tiere aus. Dickwandige Behälter aus getrocknetem Kürbis, oft mit kunstvollen Gravuren versehen, hielten die Grillen in der kalten Jahreszeit warm. Sommerkäfige bestanden hingegen aus einem Keramikkorpus, meist mit einem Gitternetz aus Holz. Um die Grillen zum Singen zu animieren, stimulierten die Besitzer:innen das jeweilige Insekt mit einem Haar aus Rattenbart, partiell gefasst in Elfenbein.

In Mitteleuropa entstanden bis ins 18. Jahrhundert spezielle Insektenmöbel – jedoch programmatischerer Natur als jene, die die Grillen behausten: etwa sogenannte Bienenstühle. Dabei handelte es sich um hölzerne Schränke oder Truhen, in die mehrere Bienenstöcke integriert waren. Sie erinnerten mit ihren Türen, kleinen Schubladen und dekorativen Elementen – etwa figürliche Deckelschnitzereien und -bemalungen – bewusst an Möbelstücke, sollten sie sich doch in das häusliche und meist bäuerlich geprägte Ensemble einfügen. Ziel war die praktische Haltung von Bienen im Wohnhaus, geschützt vor Kälte und Raub. Den illustren Stellenwert der Käfige chinesischer Grillen haben derlei Insektenmöbel indes nicht mehr erreicht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Insekten im europäischen Kulturraum weniger der Kontemplation – etwa als eine Art lebendiges Singspiel – dienten, sondern als Nutztiere betrachtet wurden: So standen in Mitteleuropa vor allem Honig, Wachs und die Bestäubungsleistung der Bienen für Privathaltung im Vordergrund. Insekten blieben so nicht nur integraler Teil ökologischer Systeme, sondern wurden auch als Part landwirtschaftlicher Ökonomie begriffen.

Sowohl die chinesischen Käfigmöbel für Grillen als auch die europäischen Bienenmöbel sind Beispiele für eine Kultur, die Insekten aus verschiedenen Nutzungsgründen einen Platz im häuslichen Leben einräumte und ihnen dafür eigens Möbel zuwies, die die Tiere ebenso schützten wie einkastelten. Mit Beginn der Industrialisierung verloren diese Praktiken nahezu gänzlich an Bedeutung und das Insekt wurde – ohne größeren kontemplativen oder ökonomischen Mehrwert für den Einzelnen – im privaten Raum vollends zum Schädling hochstilisiert, der größtenteils bekämpft wurde: ein Bild, das sich bis heute erhalten hat. Genannte historische Objekte, die dazu dienten, Insekten zu behausen, muten derzeit folglich wie stille Zeugen einer vergangenen und bisweilen befremdlichen Nähe und Neugier gegenüber Insekten an.

Indirekt zählen zu den exemplarisch genannten Möbeln auch die hier von Lea Grebe ausgestellten Hängeschränke des mittleren 19. und frühen 20. Jahrhunderts – häufig aus Nussbaum, Eiche oder Kirschholz gefertigt. Sie spiegeln den bürgerlichen Haushalt als repräsentativen und zugleich schützenden Raum wider. Ihre geschlossenen Korpusse fungierten ehemals als Schutzbehältnisse für Arzneien, Porzellanfiguren, Schmuckbände, Silber- und Zinnbecher, Devotionalien und andere Wert- und vor allem Schaugegenstände. Gerade im bürgerlichen Biedermeier und im Historismus war es zudem sehr beliebt, Käfer- und Faltersammlungen, getrocknete Pflanzen und andere vermeintliche Kuriositäten in Kabinettschränken oder Schauvitrinen aufzubewahren und darin zur Schau zu stellen. Diese Möbelstücke waren speziell dafür gedacht, Präparate hinter Glasfronten sichtbar und geschützt als Seltenheiten, aber auch als Ausweise eines neuerlich breiten wissenschaftlichen Interesses an Naturkunde zu präsentieren.

Als wären genannte Schränke nicht nur historische Objekte, sondern buchstäblich selbst längst der Zeit anheimgefallen, werden diese vermeintlichen Schutzräume für Insekten nun zur Heimstätte neuer Organismen – doch unter umgekehrten Vorzeichen: Die von Grebe aufgehängten Schränke beherbergen nun keine entomologische Sammlung im herkömmlichen Sinne mehr, sondern sind vielmehr von deren scheinbar vitalisierten Exponaten in Besitz genommen worden. Holzbesiedelnde Pilze und Galläpfel erobern die Korpusse zurück, setzen sich gar parasitär an ihnen fest; Tagfalterpuppen hängen daran und andernorts sprießt Efeu aus dem Putz. In metallische Dauerformen überführt, besetzt eine ganze Horde randständiger Flora und Fauna die hier ausgestellten Möbel und bricht aus den Wänden des Ausstellungsraums. Dabei ist vor allem das Material entscheidend, aus dem sie gegossen sind: Bronze. Als Legierung aus Kupfer und Zinn gehört sie zu den kulturhistorisch ältesten intentional hergestellten Werkstoffen und ihre Entdeckung im vierten Jahrtausend vor Christus markiert eine Zäsur, die in der Archäologie als Beginn der Bronzezeit bezeichnet wird. Neben Werkzeugen und Waffen ist Bronze seither ein bevorzugtes Material für figürliche und ornamentale Kunst. Der Einsatz der Legierung reichte von kleinformatigen Statuetten der altägyptischen und kykladischen Kulturen bis zu den heroischen Monumentalskulpturen der griechischen Klassik und den fein ziselierten Plastiken der Renaissance. Noch in die Gegenwart wird der Werkstoff für seine Dauerhaftigkeit, Korrosionsresistenz und die Fähigkeit geschätzt, feinste Details eines Ausgangsgegenstandes über einen Wachsausschmelzprozess metallisch bewahren zu können.

Durch den Einsatz von Bronze zur Darstellung von Kerbtieren und Myzeten invertiert Grebe die traditionsreiche Geschichte der Legierung: Was bisher oft einer anthropomorphen und idealisierenden Wirkung verpflichtet schien, wird durch ephemere, bisher kaum adäquat geschätzte, doch biologisch hochspezialisierte Strukturen vorgeblich unscheinbarer Wesen ersetzt. Und wo mit Bronze seit Jahrtausenden heroische Figuren, Götterbilder und symbolisch aufgeladene Ornamente geschaffen wurden, werden nun fragile, vormals kurzlebige Organismen auf Dauer konserviert. Das organische Original – etwa die Puppe eines Tagfalters, der nicht geschlüpft ist – tauscht im Gussprozess seinen Platz mit einem weitaus langlebigeren metallischen Medium. Der Abguss von Insekten, ihren Larven, von Pilzen, Blättern und Galläpfeln lenkt besagte tradierte Vorstellungen über den aufwendigen Einsatz von Bronze nicht nur kontextuell, sondern auch ästhetisch in eine neue Richtung: Anders als etwa in den Gestaltungsformen des frühen 20. Jahrhunderts werden von Grebe Pflanzen und Pilze nicht als Ornamentmotive in Metall und Glas übertragen oder abstrahiert, sondern eins zu eins und mit all ihrer Kreatürlichkeit erhalten. Die Hierarchie zwischen dem vermeintlich Erhabenen und dem offensichtlich Marginalisierten wird zumindest für einen kurzen Augenblick fadenscheinig. Umgekehrt werden menschengemachte Möbel nun von Organismen bevölkert, deren biologische Signatur allein als metallisches Zitat weiterexistiert. So entsteht ein komplexes Werkgefüge, das gleichermaßen in der Geschichte der Materialästhetik, in der Möbel- und Wohnkultur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in der Naturgeschichte von Insekten, Gewächsen und Pilzen und in den gegenwärtigen Strategien der Ökologisierung von Wissen, auch in den Künsten, wurzelt. Durch die von Grebe intendierte Wechselseitigkeit zwischen ‚naturalia‘ und ‚artificialia‘ wird so – an den Rändern eines vermeintlichen Natur-Kultur-Dualismus – sichtbar, dass kulturelle und biologische Geschichten nicht nur nebeneinander existieren, sondern existenziell verwoben sind.

Michael Klipphahn-Karge

Eine Chimäre ist kein Haustier

Das Problem ist glaube ich, dass wir bei einer Chimäre allzu schnell an ein Haustier denken. Wir stellen uns Chimären als jene mythischen, feuerspeienden Monster vor, vielleicht ausgestattet mit dem Kopf eines Löwen, dem Körper einer Ziege und dem Schwanz einer Schlange. Wir fügen drei unterschiedliche Tiere zu einem zusammen, deren individuelle Merkmale klar erkennbar für uns bleiben. Eine genetische Chimäre in der Biologie dagegen bleibt meist unsichtbar, eine alptraumhafte Kombination zweier Chromosomensätze, entstanden durch die Verschmelzung einer oder mehrerer Zygoten in den frühesten Stadien der pränatalen Entwicklung. Wie sich diese fremde DNA entwickelt, ist nicht eindeutig geklärt, aber man hört von Müttern, deren DNA sich von jener ihrer Kinder unterscheidet, oder davon, dass in Ver-gewaltigungstests Samen und Speichel nicht übereinstimmen. Nach Unterschieden bei Chimären zu suchen, wäre der erste Schritt in Richtung ihrer Domestizierung und die hybriden Tiere damit als weiteres Familienmitglied zu behandeln: als Haustier. Deinen lang verlorenen Zwilling jedoch, den du möglicherweise in dir trägst, kannst du nicht knuddeln. 

Julia Klemms keramische Arbeiten entstehen meist aus der Kombination verschiedener kleiner keramischer Bruch-stücke, jedes mit seiner ganz eigenen tierischen DNA. Manchmal handelt es sich um vorgefertigte Figuren, um jene Katzen, Löwen oder Pferde, die hochglänzend und kitschig die Flohmärkte und Wohnzimmer von Großmüttern bevölkern. In anderen Fällen handelt es sich um Variationen öffentlicher Kunstwerke, von Löwenstatuen wie sie beispielsweise auf dem Odeonsplatz zu finden sind: gescannt, herunterskaliert und mit einer 3D-gedruckten Negativform ausmodelliert. Selten formt Julia die tierähnlichen Gebilde direkt aus Ton und ritzt mit einem gezackten Schaber Fellspuren in ihre Oberfläche. Diese kleineren Tierkeramiken werden sodann zerbrochen, in fast nicht mehr wiedererkennbare Fragmente zerschlagen, bevor sie neu kombiniert werden und sich ihre Verflechtungen in der Hitze des Keramikofens verfestigen. Ich suche nach diesen Fragmenten, während ich die Werke umkreise und versuche sie zu klassifizieren: Schau, hier ein paar Löwenbeine, und hier das Haupt einer Katze, kopfüber und halb zerbrochen, sodass ich die Form gleichzeitig von innen und außen sehen kann. Es hilft, sich auf die Oberfläche zu konzentrieren, um die schimmernden Flecken eines Panthers oder die Schichtlinien des 3D-Druckers zu erkennen. 

Damit bin ich wieder auf der Suche nach einem Haustier, mit Fell, das sich streicheln lässt wie ein pastellfarbenes Stofftier. Erneut also versuche ich, mir die fremden Formen in Julia Klemms Arbeiten vertraut zu machen. Ihre äußere Erscheinung ist aber das Ergebnis einer Logik, die verborgen bleibt. Das Werk verlangt, dass ich es als Vielheit betrachte, das heißt im tierischen Sinne als Population. Und die Wissenschaft lehrt uns, dass eine Population nicht aus einer festen Menge von Individuen ein und derselben Art besteht, sondern dass sie eine sich stets entwickelnde und interagierende Masse ist, die sich in Abhängigkeit von ihrem Standort und ihrer Umwelt verändert. Die Bündnisse zwischen einzelnen Gruppenmitgliedern, die in einer Population geschlossen werden, sind nicht nur verwandtschaftlicher Natur, sondern auch solche zwischen anderen Gruppen, zwischen anderen Tieren, zwischen Pflanzen und der Geografie. Um das Innenleben des Tieres in Julia Klemms keramischen Arbeiten wahrzunehmen, muss ich von dem Tier absehen und eine umfassendere Sichtweise einnehmen; eine, die anerkennt, dass Mutation den Wandel von Populationen verschweißt. Es ist sehr fremd, die Welt auf diese Weise zu betrachten, so befremdlich und gewalttätig wie die Stahlsplitter, die das Werk durchdringen, die es zusammenhalten und gleichzeitig zerreißen. 

Text: Magdalena Wiśniowska 

Übersetzung: Dr. Tanja Klemm 

Installation views

Artist

Lea Grebe

Lea Grebe (*1987, Munich) studied Art Education, Art History, and Modern German Literature at Ludwig-Maximilians-Universität Munich (2007–2012). From 2012 to 2018, she studied Painting and Graphics under Prof. Axel Kasseböhmer at the Academy of Fine Arts Munich, graduating in 2018 as a master student. Since 2017, she has been working as an artistic associate in the class of former Prof. Kasseböhmer and later Prof. Schirin Kretschmann. Among other honors, she has received the Debutant Award of the City of Nuremberg, a working grant from the Kunstfonds Foundation, and the Bavarian State Scholarship for the Cité des Arts in Paris.

Works

If you are interested, please inquire about availability

Cabinet I (Gallen)
2025

Lea Grebe

Wood, bronze

40 x 31 x 16 cm

Nesselfalter
2025

Lea Grebe

Wood, bronze
2,5 x 0,5 cm

Cabinet II (Kokons)
2025

Lea Grebe

Wood, bronze
53 x 38 x 20 cm

Intruder I (Rosenzweige)
2024

Lea Grebe

Bronze
110 x 70 x100 cm

Cabinet III (Baumpilze)
2025

Lea Grebe

Wood, bronze
53 x 43 x 18 cm

Intruder II (Efeu)

2025

Lea Grebe

Bronze
14 x 16 x 20 cm

Cabinet IV (Schnecken)

2025

Lea Grebe

Wood, bronze

60 x 36 x 24 cm

Shelter VIII

2025

Lea Grebe

Glass, bronze

23 x 32 x 2 cm

Hybrid

2025

Lea Grebe

Paper, Acryl spray, band, metal eyelets

380 x 250 cm

Left: Shelter IX

Right: Shelter VIII

Lea Grebe

Glass, bronze

36 x 47 x 3 cm


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