SILVER TIDES
Unsere Ozeane befinden sich in einem fluktuierenden Schwebezustand, in ständiger Bewegung. Ebbe und Flut kommen und gehen, die Wellen heben und senken sich. Das Echo der Gezeiten hallt in den Räumen der Galerie The Tiger Room wieder. In der schäumenden Gischt sind Finger zu entdecken, Hände die nach Perlen greifen, und blaue Rundungen umgeben von Meersalz. Die Gruppenausstellung “Silver Tides” bringt die Arbeiten der chinesischen Künstlerin Yuchu Gao und der koreanischen Künstlerin Ju Young Kim zusammen, die sich individuell dem Sujet des Meeres als potenziellen Ort der Freiheit annähern.
Ihre Köpfe sind rund, eingepackt in Schwimmhauben. Ihre Gesichter sind durchzogen von tiefen Falten, eingegraben in ihre Haut, Spuren der Sonne und des Meersalzes. Sie sind Haenyeo, Seefrauen, geprägt von der jahrelangen schweren körperlichen Arbeit als Taucherinnen an der Südküste vor Südkorea. Yuchu Gao skizziert in ihrer neuesten Werkserie ausdrucksstarke Gesichter, überlagernde Texturen und rhythmische Linien auf fragilem Transparentpapier. Die koreanischen Taucherinnen, die ihren Lebensunterhalt mit dem Jagen von Meeresfrüchten bestreiten, werden zum Ausgangspunkt für Gaos multiperspektivischen Kohlezeichnungen. In dem sich kräuselnden Wasser tauchen die Frauen in Neoprenanzügen nach Krebsen, Muscheln und Seeigeln. Das Meer bietet ihnen Freiheit, durch ihre Tätigkeit ermöglichen sich die Haenyeo finanzielle und gesellschaftliche Unabhängigkeit. Sie sind Teil einer matriarchal geprägten Gemeinschaft, einer emanzipatorischen Tradition, deren Aufzeichnungen bis ins 17. Jahrhundert zurückgehen.
Ju Young Kim dekonstruiert die dynamischen Wogen der Ozeane in ihrer Arbeit “heavy water (sea series)” (2022). Umgeben von Meersalz und platziert auf individuell angepassten Transportboxen befinden sich metaphorische Bruchstücke der Weltmeere. Die Formgebung des bläulich schimmernden Glases basiert auf den nicht sichtbaren Ländergrenzen, die sich durch unsere Meere ziehen. Die transportablen Glasobjekte verteilen sich durch die Räumlichkeiten der Galerie und stellen politische Grenzen und Territorien in Frage. In ihrer Arbeit “Unsent Parcel” (2022) wird die Willkür solcher Grenzziehungen deutlich. Auf dem silbernen Koffer ist eine Adresse angebracht, die nicht existiert, sie ist nicht mehr auffindbar. Die Anschrift gehörte ursprünglich Kims Großvater und liegt im heutigen Nordkorea. Das Innere des Koffers ist von Linien, Falten und Furchen durchzogen. Eine übergroße Aufnahme der Handfläche der Künstlerin weckt Assoziationen von geografischen Karten.
In blauem Neonlicht leuchtet der Schriftzug “einmal ist keinmal” in der Galerie – ein Ausdruck, den Ju Young Kim dem Roman “Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins” von Milan Kundera entnommen hat. Die Künstlerin ruft dazu auf, sich trotz der Schwere des Alltags, persönlicher Sorgen und existentieller Krisen eine gewisse Leichtigkeit zu bewahren. Hiermit ergibt sich eine Schnittstelle zwischen den beiden künstlerischen Positionen.Yuchu Gaos Zeichnungen zeigen, wie die Haenyeo, schwerelos im Wasser schwebend, sich ihre Freiheit in einer ansonsten patriarchal geprägten Gesellschaft erarbeitet haben. Das Meer sichert die finanzielle Unabhängigkeit der koreanischen Taucherinnen und lässt sie zu wichtigen Entscheidungsträgerinnen innerhalb ihrer Gemeinde werden. Kim auf der anderen Seite bricht mit politischen Grenzziehungen und stellt diese in Frage. Biographische und geographische Grenzen werden dekonstruiert, um der Freiheit ein Stück näher zu kommen.
Text von Julia Anna Wittmann
Installation views
Artist
Intuition runs fearlessly with Yuchu Gao‘s dreams like a wild horse. She cautiously captures both the tangible and intangible relations of her surroundings: daily objects, history, news, dreams, and even senses. By picking up the elements she sees or feels, then casting a spell on them, fragmented stories gradually come together – stories that manifest one by one in each of her works. No matter how seemingly irrational her visual languages are, all of them embodies the artist’s meticulous observation and reflection of our reality.
The artistic practice of Ju Young Kim, born in 1991 in Seoul, South Korea, encompasses installations and objects using materials such as glass, ceramics, metal, plastic and transport modules, the components of transport systems of aircraft and cars, for example, as well as elements that include landscapes and anonymous objects. The visual aesthetic of her works is characterized by the precision of form, color ambiguity, and often surreal elements. In her conceptual explorations, expressed in past and current series, she examines the relativity of space and time from the perspective of a transcontinental traveler. She investigates transitional states expressed through transformations of various physical and symbolic attributes that mostly occur in the so-called „transit zones“ of our lives.